Einer spontanen Eingebung folgend besuchte ich heute meine Omma. Sie ist nun schon im 88. Lebensjahr und hat in den letzten Monaten mächtig abgebaut, geistig wie körperlich und es war traurig zu sehen, wie sie sich über sich selbst ärgert, weil sie die Namen ihrer Enkel und Urenkel nicht mehr erinnert, weil sie nicht weiß, von welchem ihrer Söhne ich die Tochter bin, weil sie mir zum hundertsten Mal abgelegte Blusen aufschwatzen will, die ich schon vor zwei Jahren dankend abgelehnt habe und danach wie immer beleidigt ist. „Ach, ich bin nimmer lang da“, sagte sie mit seufzender Stimme und ich konnte gar nichts erwidern, denn ich glaubte es ihr aufs Wort.
Zufällig kam mein auch Onkel zu Besuch, der älteste Bruder meines Vaters, den ich schon lange Zeit nicht mehr und auch vorher nur sporadisch getroffen hatte. Die Art, wie er mit der Omma sprach, seine Gestik, seine Mimik in dem so ähnlichen Gesicht bewirkten, dass ich einen ganz kurzen Moment dachte, mein Vater wäre nach einem Dreivierteljahr aus seinem Grab gekrabbelt und stünde jetzt dort an Stelle des Onkels an der Heizung, um meine Oma zu schimpfen, weil sie beim letzten Gewitter vergessen hat, die Regenwasserklappe zu schließen, weswegen jetzt der gesamte Keller feucht ist.
Ich stand beiläufig auf und schloss mich in der Toilette ein, wo ich erstmal ein bisschen heulte, über meine Omma, die „nimmer lang“ da sein dürfte, ihre bemitleidenswerte Verfassung und die für mich in diesem Augenblick verstörende Begegnung mit dem Onkel, der mich so frappant an meinen Vater erinnerte.
Vielleicht wäre ich ohne akutes PMS nicht so dünnhäutig gewesen, vielleicht bin ich heute auch einfach mit dem falschen Fuß aufgestanden, aber dass diese kleine Episode mich derart vom Hocker haut, hätte ich nicht gedacht. Und wenn meine Mutter mich mal wieder anruft, weil sie die Sehnsucht nach meinem Vater überkommt, werde ich nicht die Augen verdrehen und ihr ein kurz angebundenes „Ach komm, es ist nun mal so!“ zuraunzen, sondern werde ihr von meinem Déjà -vu erzählen und dann werden wir zusammen ein bisschen unsere Tränenkanäle spülen, denke ich.
Euch einen unbeschwerten Tag wünscht
moggadodde