Weltbildwandel

Als ich im Supermarkt heute unentschlossen vor den Gemüsen sinnierte, fiel mein Blick auf einen finster aussehenden Typen. Sein hautenges, ledernes Beinkleid wurde im Norden von einer abgetragenen Lederjacke komplettiert, auf deren Rückseite irgendwas mit „Morticia“ aufgenäht war. Er trug ein Stachelhalsband und eine Art überdimensionierter Schraubenmutter im Ohrläppchen mit dem Durchmesser einer Litschi. Nur seine gebleichten Haupthaare staken mittig auf dem massigen Schädel in die Höhe, denn die Seiten waren rasiert. Mit grimmigem, geschminktem Gesicht betrachtete er die Auslage und sein Ausdruck ließ mich vermuten, er suche noch schnell eine bunte Beilage zum Abendessen, dessen Hauptgang aus sautiertem Säugling an Ochsengalle und Magic Mushrooms bestehen würde.

Er war ein von der Punk-Szene angehauchter Gothic-Geselle Mitte der Zwanziger und mir fiel ein, dass die Schwarzkittel meiner Jugend „Gruftis“ genannt und von unseren Eltern argwöhnisch beäugt wurden, weil sie nach damals vorherrschender Meinung auf mondbeschienenen Friedhöfen pausenlos schwarze Messen feierten und dabei das Blut der geopferten Federtiere schnabulierten wie sie selbst das wohl verdiente Feierabendbier.

Als ich darüber nachdachte, dass von uns beiden hier wohl ich als der echtere „Grufti“ zu bezeichnen war, griff sich der Kerl eine Sellerieknolle und sprach mit ihr. Als ich mich unauffällig näherte, um ihn besser verstehen zu können, wandte er sich mir zu und lächelte. Er wollte heute Frikassee kochen, erklärte er mit Fistelstimme, die so gar nicht zu dem martialisch-monströsen Äußeren passen wollte, und ob ich denn wisse, ob da Sellerie hineingehöre. „Kapern sollen dabei sein“, erklärte ich, ansonsten müsse ich gestehen, dass ich keinen blassen Schimmer hätte, frikasseetechnisch betrachtet. Er fände ja, dass dieses Essen mit Huhn am besten schmecken würde, obwohl viele Kalbfleisch bevorzugen würden, verkündete er und wollte wissen, ob ich mir Sellerie dabei vorstellen könnte.

Ich konnte mir bisher ja viel vorstellen, aber nicht, dass ich mich in der Gemüseabteilung von REWE mit einem selleriebesprechenden Grufti Gothic über Kochrezepte unterhalte und dass der Bursche dann auch noch mehr Peilung haben könnte als ich und resümierte: Manch wundersames Element gehört jetzt zum Establishment.

Gruftis sind anscheinend auch nicht mehr das, was sie mal waren.

Euch einen weltbewegenden Abend wünscht
moggadodde

Dieser Eintrag wurde in Daily Soap veröffentlicht.

12 commenti su “Weltbildwandel

  1. Squalus sagt:

    Grufties sind wie Punks und „Punx are dead“. Schade eigentlich, aber die Zeit bleibt eben nicht stehen. So geht eine weitere grandiose Jugendbewegung im Einerlei des Zeit-Raum-Strudels unter – Egal! Hauptsache, die Wirtschaft brummt.

    Ich habe es ja schon immer gewusst: Supermärtke sind die Freakshows des 21. Jahrhunderts (gestern wieder an der Kasse bemerkt) und Kapern der Todesstoß für jedes Frikassee! Meine Oma könnte Lieder davon singen, aber leider ist die durchschnittliche Lebensspanne des Menschen nicht auf „unendlich“ geeicht.

    Gabba Gabba Hey

  2. […] moggadodde hat mich mal wieder dran erinnert, dass man sich nie zu sehr auf das Äußere eines Menschen […]

  3. socki sagt:

    Stell Dir einfach vor, er würde das Huhn selber schlachten, sein Blut trinken und den Rest zu Frikasse verarbeiten. Dann stimmt das Bild wieder.
    Was haben da eigentlich Kapern drin verloren? Ins Hühnerfrikasse kommen noch frische Championgs und als Beilage Reis. Sellerie finde ich da sehr gewagt.

  4. moggadodde sagt:

    @ Squalus: Für mich bedeutete „Punk“ immer eher Sex Pistols als Ramones, die immerhin bei Dixie ab und an auf der playlist stehen, as you can see: Punkx still alive – naja sagen wir, der Hirntod ist noch nicht eingetreten! Ich find’s auch ein bisschen schade, dass die Individualisten und Farbtupfer immer weniger werden.

    Das mit den Kapern im Frikassee kenne ich nur vom Hörensagen. Kapern gehören für mich auf eine Pizza oder in meine Spezialpaste mit Sardellen, Petersilie und Frischkäse.

    @ socki: Frikassee = Kapern. So steht’s in meinem Gehirn 😉
    Der Typ war so putzig, der würde eine Spinne bestimmt nicht zermatschen, so wie ich vorhin. Der würde die mit einem Becherchen vorm Fenster aussetzen.

    Ich habe mir das Rezept jetzt mal in der Bibel im „Bayrischen Kochbuch“ angeschaut. Da sind auch Kapern dabei, und deine Champignons und Reis aber kein Hauch Sellerie. Ist aber sicher alles Geschmackssache 😉

  5. barbara sagt:

    das ist so ne Sache mit den Vorurteilen. Gab es nicht so ne Werbung mit harten Harley-Rockern, die dann niedlich im Vorgarten sitzen und mit den Kindern spielen? 😉

  6. azahar sagt:

    *lach* Ich stellte mir das gerade vor. Einfach köstlich!
    Wenn der mich gefragt hätte, hätte ich ziemlich blöd geschaut. Ich glaube, das Wort Frikassee ist mir noch nie über die Lippen gekommen und ich hätte zuerst mal an was kompliziertes gedacht. Nach einigem Nachdenken ist mir aber aufgegangen, dass es sich dabei um gemeines Geschnetzeltes handelt. Tja, so kompliziert kann die Welt sein.
    Kapern gehören da aber nicht rein!

  7. moggadodde sagt:

    @ barbara: Ja – sehr geschickt. Ich glaube, Werbung mit „gar nicht so harten Kerlen“ kommt besser an als die mit Kindern. Man kann guten Gewissens einen Bausparvertrag (?) abschließen und gilt trotzdem nicht als spießiger Grufti (da hammers ja schon wieder!).

    @ azahar: Das ist ja auch kein bayrischer Ausdruck! Es soll eine Kreuzung aus frz. „frire“ (Braten, Rösten) und „casser“ (zerkleinern) sein, das witzigerweise identisch ist mit „casser“ (zerstören, vernichten), was dann wieder „Ey Alda, ich frikassier dich!“ einen Sinn gibt. Mia songn „A Gschnetzls“, gell?
    Ich wiederhole mich zwar aber: Lt. dem Bayr. Kochbuch gehören da Kapern rein. Nicht mal optional, sondern zwingend.

    @ Mephisto: Aus oder an?

  8. nömix sagt:

    Man hört ja immer über „bewusste Ernährung“. Von manchen wildjagenden Naturvölkern ist bekannt, dass sie sich bei ihrem erlegten Beutetier vorher entschuldigen, bevor sie es in die Pfanne schlagen und verspachteln. Dass einer auch bei pflanzlicher Nahrung wie Sellerie soviel Bewusstsein voraussetzt, um mit ihr eine Unterhaltung zu führen, mutet dennoch etwas extravagant an 😉

  9. moggadodde sagt:

    @ nömix: Tja, er war wohl ein ganz besonders sensibles Exemplar der Gattung Post-Gruftie. Vielleicht war er aber auch einfach nur irre 😉
    Vielleicht feiern die Goths heutzutage grüne Messen auf den Friedhöfen und opfern Salatköpfe, wer weiß … 😀

  10. goth ist leider mittlerweile mainstream und gar nicht tot. wers nicht glaubt: kommt mal zu pfingsten nach leipzig, da werdet ihr euer schwarz(-und-pinkfarben)es wunder erleben … aber spaß macht es trotzdem, da im bodenlangen corsagenkleid einherzuspazieren und die gelegentlich immer noch schockierten blicke der passanten aufzuschnappen ;o) (man sollte doch meinen, dass sich im jahr 12 oder so des wave- und gothic-festivals selbst die lindenauer bravbürger an schwarzes volk im straßenbild gewöhnt haben sollten, aber das ist gelegentlich weit gefehlt.)
    egal.
    aber ein sellerie besprechender goth ist schon echt spaßig :oD

  11. moggadodde sagt:

    @ hühnerschreck: Ich könnte mir vorstellen, dass das recht lustig ist, aber so als verkleideter Teilzeit-Bürgerschreck wird man von den Hardlinern bestimmt nur belächelt und für mich als fanatischem Faschingsmuffel ist das wohl ohnehin nicht das Richtige.

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