Der Plastikprinz

Das graue Ledersofa ist bequem aber ziemlich weich, ich sitze ganz rechts, den Ellbogen betont lässig auf die Lehne gelegt. Ich habe meine Beine übergeschlagen, so dass der Rock meines schwarzen Kostüms, der genau eine Handbreit über dem Knie endet, möglicherweise ein wenig zu hoch rutscht. Wie ich hier aufstehen soll, ohne dämlich auszusehen oder zuviel von meiner Unterwäsche preiszugeben, weiß ich noch nicht und ich wünschte, ich könnte auf einem Stuhl sitzen. Aber nun bin ich hier erst einmal in dem großen Büro des großen Bosses, mit einer Glasfront, so groß wie der Zuckerrübenacker von meinem Opa und Regalen, die sicher mehr bunte Plastikobjekte beherbergen als das Zentrallager bei IKEA. Rod telefoniert nach seiner Sekretärin und bittet um Kaffee für uns, den sie schon wenige Minuten später duftend in den Raum bringt. Mit einem Lächeln stellt sie meine Tasse auf einen kleinen runden Plastiktisch neben der Couch, bringt dann die Kaffeekanne zu Rods Schreibtisch, auf dem schon eine Tasse steht mit der Aufschrift „Ich bin hier nur der Arsch“ und verlässt dann sehr leise das Büro.
Ich bin hier zu einem Vorstellungsgespräch und damit eines klar ist: Ich WILL diesen Job.

Rod Laver, den Boss, habe ich im „Strings and more“ kennen gelernt, wo ich samstags und sonntags bei gedämpfter Musik hinter der Bar stehe und dem erlesenen, oft sogar prominenten Publikum die „Mint Tulips“ oder „John Collins’“ über den Tresen schiebe, während ich die Macher der nahen Börse beobachte, wie sie mit vollem Einsatz ihrer grandiosen Egos den kichernden, offenherzigen Schnepfen ins Cocktailkleid zu fassen versuchen. Oft müssen sie sich aber nicht sehr anstrengen. Einige Professionelle sind hier auch manchmal unter den Gästen, aber besonders häufig sitzt Mildred an meiner Theke, die ziemlich gefürchtet ist, weil sie sich von den betuchten Geldsäcken, die die anwesenden Frauen generell als verfüg- und somit bespringbar ansehen, nichts gefallen lässt. Erst letzte Woche hat sie sich derart heftig in den Genitalien eines besonders hartnäckigen Verehrers verkrallt, dass ihr Nagelstudio eine Sonderschicht schieben musste, um ihr neue, künstliche Nägel zu verpassen. Der Kumpel des Verehrers hat bei der Polizei zwar ausgesagt, der Typ habe Mil nur um Feuer gebeten und vielleicht hat sie auch etwas übertrieben reagiert, immerhin musste der Kerl in die Klinik. Aber so ist Mil, kompromisslos, eigensinnig, durchgeknallt und manchmal ziemlich gemein.
Sie war es auch, die mit Rod letzte Woche an die Bar kam und stellte ihn mir als einen neuen Bekannten vor, der im Zeitungswesen „unglaublich erfolgreich“ seine Brötchen verdiene. Sofort fingerte sie an ihm herum, purzelte beinahe vom Hocker bei ihren Bemühungen, ihm möglichst unverfänglich aber deutlich an die Oberschenkel zu fassen und wie zufällig immer wieder seine Schultern zu berühren. Diese Aktion war leicht zu durchschauen, zumal Mil aufgedreht kicherte und gegen ihre sonstige Art nicht Kette rauchte. An dem Typen schien ihr was zu liegen, weil sie die Männer sonst meist mit herablassender Miene und spitzen Sprüchen bedachte, was die Idioten aber nicht davon abhielt, ihr scharenweise wie läufige Hunde hinterherzuhecheln, was mich nicht wundert, denn Mil sieht einfach phantastisch aus und jedes Lebewesen, dem es gelingt, bei ihrem Anblick nicht zu erigieren, ist entweder schwul, eine Frau oder noch nicht erfunden.

Deshalb wunderte ich mich, als ich spürte, wie er immer wieder meinen Blick suchte, sich nach Kräften bemühte, Mils fordernde Hände und verzweifelten Konversationsversuche möglichst höflich zu parieren. Sie machte sich hier wirklich lächerlich, bemerkte es aber nicht einmal. Wegen ihres Aufsehen erregenden Angriffs auf den Mann in der letzten Woche hatte sie Hausverbot und bald kam Bert, der Chef aus seinem Hinterzimmer und beförderte sie mit sanftem Druck an die Luft, weil er nur ungern die Bullen im Haus hat und Mil hier seiner Meinung nach wirklich ein latentes Risiko für die öffentliche Ordnung ist. Zeternd versuchte sie noch, Bert zu bequatschen aber er ist ein Mann mit Prinzipien und kann ziemlich nachtragend sein. Mil ist schlecht fürs Geschäft, auch daran gibt es keinen Zweifel.

Rod und ich kamen ins Gespräch und er erzählte, dass er Mil die erfolgreicher-Zeitungsmann-Geschichte erzählt habe um bei ihr landen zu können und in Wahrheit habe er sich vor zwei Jahren als Kunststoffhändler selbständig gemacht, aber Frauen würden sich wohl lieber mit einem Zeitungsheini verabreden als mit dem „Plastikprinz“ und jetzt wusste ich auch, woher ich ihn kannte: In einer Zeitung hatte ich einen Bildbericht gesehen, in dem über die Verleihung eben dieses Titels durch die örtliche IHK berichtet wurde.

Er wollte wissen, was eine Frau wie ich hinter dem Tresen einer Bar wie dieser zu suchen hätte und ich klärte ihn auf, dass den fälligen Rechnungen egal sei, von welchem Geld sie bezahlt würden und leider habe sich mein teures Studium der angewandten Polymerwissenschaft noch nicht in klingende Münze umsetzen lassen. Ich sei halt einfach im falschen Jahrgang geboren, erklärte ich und zuckte mit den Schultern. Er sah mich überrascht an und sagte, dass die Kunststofftechnik nicht nur sein Beruf sondern auch sein Steckenpferd sei. Nun sprudelte er los: Er habe ein sagenhaftes Trainingsgerät entwickelt, das Frauen nicht nur bei gesundheitlichen Problemen Unterstützung biete sondern zudem in gewissen Stunden zur Entspannung verhelfe. Nur leider mangele es ihm an geeigneten Mitarbeitern, die ihn bei der Weiterentwicklung der Prototypen unterstützten. Ich als Frau mit Kenntnis von Kunststoffen wäre ganz sicher ausreichend qualifiziert für die Aufgabe, ihn hinsichtlich Materialwahl sowie Form- und Farbgebung zu beraten. Es gebe schon massenhaft Anfragen diverser Home-Shopping-Sender, einzelner Boutiquen und sogar medizinischer Kreise. Gleich morgen solle ich doch bitte in sein Büro kommen und grinsend setzte er nach, ich sollte nicht im Traum daran denken, ihn zu versetzen!

Auf den Job in der Bar war ich noch nie sonderlich scharf gewesen, deshalb sitze ich jetzt hier auf dem grauen Ledersofa und warte darauf, dass Rod zur Sache kommt. Ich freue mich darauf, mein gelerntes Wissen endlich praktisch umzusetzen und habe sämtliche Unterlagen über meinen hervorragenden Studienabschluss in der Tasche zu meinen Füßen. Entwicklung hochwertiger Kunststoffprodukte, OPEC-Statuten, Käuferanalysen, Zielgruppenforschung, alles kann ich aus dem Effeff.
Rod nippt an seinem Kaffee, öffnet den Wandschrank und stellt nacheinander beinahe andächtig fünf verschiedene Dildos, von denen einer sogar aussieht wie eine Gummiente, auf den lackierten Schreibtisch. Ich spüre, wie mir das Blut in den Kopf schießt, sich in den Ohren sammelt und es gelingt mir, verlegen zu fragen, was das nun solle. Ich bin schließlich gut ausgebildet und habe mich darauf eingestellt, die Forschungsabteilung für seine neuen Erzeugnisse aufzubauen, sage ich. Rod lächelt jetzt und sagt, er übertrage mir sogar die Leitung. Allerdings sei ich in der neuen Abteilung „Produkttest“ die einzige Angestellte. Ob mir das etwas ausmache?
Ich stehe auf, gehe langsam auf ihn zu und versuche mich daran zu erinnern, wie Mil ihren speziellen Griff bei dem armen Kerl ohne Feuerzeug angesetzt hat. Ganz plötzlich fällt es mir wieder ein …

Unforgettable

Natürlich ist es wieder spät geworden! Kleist, mein dumpfbackiger, unfähiger Vorgesetzter hatte mir schon wieder kurz vor Feierabend eine mail geschickt, dass er sämtliche Provisionsaufstellungen der letzten zwei Jahre sowie die kompletten Spesenabrechnungen von Mörike und Holler vom Vorjahr sehen möchte. Und zwar pronto, wenn er bitten dürfte. Kein Wort des Bedauerns, dass er mir um diese Zeit noch mit so einem Ansinnen den Feierabend versaut, kein Dank dass ich zu den 65 aufgelaufenen Überstunden in diesem Monat (unbezahlt natürlich) noch einige mehr draufpacke. Missmutig betrat ich zwei Stunden später sein Eckzimmer mit Aussicht und als ich die verlangten Unterlagen auf seinen glänzenden Schreibtisch legte, blickte er nicht einmal auf.
Jetzt endlich steige ich in den Aufzug, todmüde, mit brennenden Augen und schreienden Kopfschmerzen und denke darüber nach, wann ich das letzte freie Wochenende hatte. Ich muss sehr lange nachdenken, kann mich aber nicht mehr erinnern. Meine Knie krachen beim Laufen als ich in der Tiefgarage ankomme und mein Ischiasnerv macht sich auch wieder bemerkbar. Verdammte Sitzerei! Sport ist für mich schon lange zum Luxusgut geworden und traurig denke ich an die Zeit zurück, als die Squashrunde am Donnerstagabend zum festen Wochenplan gehörte. Wegen meiner immerwährenden Absagen waren die Jungs es wohl leid geworden und hatten sich schon lange nicht mehr gemeldet.
Langsam gehe ich zum Auto. Wegen der Rückenschmerzen werde ich bald etwas unternehmen müssen. Was habe ich nur für ein jämmerliches Leben! Tagsüber 130 %iger Einsatz im Büro, ohne jemals auch nur den unwichtigsten Termin zu vergessen und nachdem die Zentrale der Insuria schon die Absicht eines weiteren Stellenabbaus in den Medien bestätigt hatte, hängt über meiner täglichen Arbeit auch noch das Damoklesschwert einer möglichen „Freistellung“. Karin hat schon vor 3 Jahren mit ihrem Spanischlehrer die Biege gemacht und lebt nun auf einer malerischen Finca auf Fuerteventura. Ich kann ihr das nicht einmal verdenken, war ich in den letzten Jahren immer mehr zum psychotischen Wrack verkommen, das in stetem Rhythmus wöchentlich eine andere Phobie entwickelte. Immerhin das hatte ich inzwischen im Griff. Die Angstattacken waren beinahe weg und mit der Atemnot, die mich in manchen Situationen befiel, konnte ich dank eines immer greifbaren Inhalats gut umgehen.
Ich höre von der rechten Seite ein leises Geräusch und kurz darauf vernehme ich flüsternde Stimmen hinter dem weißen Sharan, der neben meinem Golf geparkt steht. Die Garage ist hier nicht gut beleuchtet und ich bin gerade neben meinem Fahrzeug angekommen, als ich in den Augenwinkeln einen Schatten wahrnehme. Noch bevor ich mich umdrehen kann, werde ich von hinten gepackt und mit eisernem Griff festgehalten, während mir jemand irgendetwas sackartiges über den Kopf zieht und gleichzeitig, so kommt es mir vor, wird ein Klebeband auf meinem Mund fixiert. Schmerzhaft hält jemand meine Hände auf den Rücken gedreht, fummelt an den Gelenken und im nächsten Moment kann ich meine Arme nicht mehr bewegen. Ich höre keine Stimmen, nur das Rascheln von Kleidung und meinen eigenen, stoßweisen Atem, der sich in dem Sack seltsam gedämpft anhört. Unsanft werde ich gepackt und ich bemerke, dass ein Auto heranfährt. Jemand schubst mich in Richtung des nagelnden Diesels, eine Tür wird geöffnet und ich werde auf einen Autositz gedrückt. Es sitzt jemand sitzt neben mir und noch immer hat niemand ein Wort gesagt. Ich versuche verzweifelt, zu schreien, was natürlich nicht gelingt und erst jetzt spüre ich die Panik aufsteigen und im gleichen Moment fährt das Auto los, in gemächlichem Tempo, wie mir scheint und nicht wie im Film, wo das Entführerfahrzeug mit quietschenden Reifen durch die Straßen hetzt. Was soll das? Ich habe kein Geld, das erpresst werden könnte, keine Besitztümer in meinem hypothekenbelasteten Reihenhaus, außer einem Flachbildfernseher aber deswegen wird man nicht entführt. Ich habe keine Feinde, nicht dass mir jetzt bewusst wäre jedenfalls, und fieberhaft durchforste ich mein Gehirn nach einem möglichen Grund für diesen brutalen Überfall. An einen nicht bezahlten Strafzettel denke ich, daran, dass ich im letzten Monat bei Rewe aus Versehen eine Flasche Amaretto nicht bezahlt habe und dass die Rechnung für die letzte Inspektion noch unerledigt in der Schublade liegt …
Ich habe kein Zeitgefühl mehr und höre an den Fahrtgeräuschen, dass wir inzwischen nicht mehr in der Stadt sind, sondern uns auf einer Schnellstraße befinden müssen. Plötzlich höre ich Musik. Simon and Garfunkel, „Sound of silence“ und, daran anschließend “Mrs. Robinson”.
Wir fahren jetzt über einen holprigen Weg, ganz langsam und ich werde hin und her geschaukelt, berühre mit der linken Schulter die neben mir sitzende Person. Schließlich stoppt das Auto, ich werde wieder gepackt und herausgezogen, ich höre, wie Kies unter meinen Schuhen knirscht und an den Geräuschen, dass noch mehrere Personen mit mir gehen.
Links und rechts werde ich gehalten, als wir über zwei Holzstufen offenbar ein Haus erreichen, eine Tür knarrt in den Angeln und nach ungefähr 15 Schritten bleiben wir stehen. An den Schultern werde ich auf einen Stuhl gedrückt und endlich wird mir der stinkende Sack vom Kopf genommen. Jetzt riecht es wie in einer Hühnerbraterei und ich bin in einem Raum mit Holzwänden, es sieht aus wie eine alte Jagdhütte, mit Fleckerlteppichen und bemalten Schränken und gar nicht nach dem Unterschlupf einer bösartigen Verbrecherbande. Die Fensterläden sind geschlossen und der Maskierte, der mir eben den Sack vom Kopf genommen hat geht mit langsamem Schritt zu einer Tür, knipst das Licht aus und geht hinaus. Jetzt ist es wieder völlig still um mich und unter der Tür, durch die der Maskierte gegangen ist fällt ein schmaler Lichtstreifen ins Zimmer. Endlich fasse ich mir ein Herz, stehe auf und entferne vorsichtig das Klebeband von meinem Mund. Ich versuche, ganz leise zu sein und bewege mich in Richtung einer Tür, die im Halbdunkel wie die Eingangstür aussieht. Mit klopfendem Herzen und schrecklicher Angst öffne ich die Tür, bereit, sofort loszusprinten, weg, nur weg hier! In meiner drängenden Vorwärtsbewegung übersehe ich die hoch stehende Bohle in der Tür und falle bauchlängs aus dem Haus. Als ich mich hochrapple, bemerke ich, dass ich nicht mehr allein bin. Etwa 20 Menschen stehen um mich herum, halten sich vor Lachen die Bäuche und fangen an, „Happy Birthday“ zu singen. Am lautesten singt Kleist und Arm in Arm mit meinen Freunden, die ich teilweise seit Jahren nicht mehr gesehen habe, prosten sie mir lachend mit gefüllten Sektgläsern zu. Meinen Geburtstag habe ich nun wirklich vergessen, denke ich noch, als ich ohnmächtig zu Boden sinke.

Mutterliebe

Ich liebe meine Söhne. Tagtäglich beglücken sie mein stolzes Mutterherz bis es prall vor Stolz dem Bersten nah ist wie eine zu voll gemachte Wasserbombe. Schon bald erkannte ich ihr außerordentliches Potenzial und ich bin mir absolut darüber im Klaren, dass sie etwas ganz Besonderes sind. Augustin konnte schon mit 12 Monaten nicht deterministisch polynominelle, mathematische Aufgabenstellungen regelgerecht lösen, während Eduard bereits mit sechs Monaten lyrische Texte im anapästen Versmaß verfasste. Aus meinen Schätzen wird etwas ganz besonderes, nicht solche Sesselfurzer mit Gleitzeit und Pensionsanspruch, keine Logistikfuzzis oder Metzgermemmen und schon gar keine Werbewachteln oder Betriebswirtschaftsblinde, da bin ich mir sicher. Die optimale Förderung in allen Bereichen ist natürlich unumgänglich, so haben meine Jungen schon früh eine musische Unterweisung in allen Zupf- und Streichinstrumenten genossen. Besonders Eduard tat sich an der 38saitigen Konzertharfe sehr leicht und genoss den tosenden Applaus bei seinem letzten Gastspiel in Ulan Bator. Spielend gelang es Augustin mit 7 Jahren, die anwesenden Herren Professoren der Universität in Austin/Texas mit seinen Ausführungen zum Jacobi-Verfahren auf kompakten Lie-Algebren zu beeindrucken. Da hatte mein Augustin aber schon lange den Dr. h.c. in den Taschen seiner Latzhose! Dass Kinder eine kostspielige Angelegenheit und beinahe schon Luxusartikel sind, dürfte sich bis in die entferntesten Gegenden herumgesprochen haben. Und, oh ja, das kann ich nur bestätigen! Es macht mir allerdings wirklich nichts, dass ich unser verklinkertes, kleines Häuschen mit Einliegerwohnung gegen einen Knaus Südwind aus dem Jahre 1974 tauschen musste. Die Waschgelegenheiten auf unserem Campingplatz sind wirklich allererste Sahne und es wird sogar wöchentliches Duschen geduldet. Ich meine, wo gibt es so etwas schon! Ganz schön gemein finde ich allerdings, dass mich die Sütterlins links neben meiner Parzelle bei den Bullen angeschwärzt haben, weil ich Struppi gekocht habe. In anderen Ländern gelten Hunde schließlich als Leckerbissen und was sollte ich machen, oder haben Sie schon einmal 5 Tage am Stück nichts gegessen? Von einem Wellensittich kann eben kein Mensch lange leben, oder? Hermann hat mich inzwischen ja wegen so einer dummdreisten Schlampe sitzen lassen, was mir aber nicht ganz ungelegen kam, weil ich ihn mit seinem Rollstuhl nur sehr mühsam in den Knaus bugsieren konnte. Kurz vor seinem Abgang zur Schlampe ist er mir doch tatsächlich rückwärts aus dem Rolli gekullert und hat sich die Schulter ausgekugelt! Nein, das war mir echt zu dumm. Ha, aber eine Niere habe ich ihm vorher noch abschwatzen können, nein, die habe ich selbstverständlich nicht gegessen, ich bin ja keine Kannibalin, wo denken Sie hin, aber Sie hätten sehen sollen, wie die Gebote bei ebay hastenichtgesehen in Schwindel erregende Höhen kletterten! Von dem Erlös habe ich mir mit meinen Jungs auf einem Erbpachtgrundstück in der Nähe eine Hanfplantage aufgebaut, 1 ha Ackerland allererster Güte, mit Aussichten auf bescheidenen, finanziellen Wohlstand. Dass der Anbau von Hanf bei Strafe untersagt ist, hat mir nie jemand gesagt und ich halte dieses Verbot auch für ausgemachten Schwachsinn. In der Schrebergartensiedlung im Süden der Stadt wird in jedem zweiten Beet Tabak gezüchtet, da ist das Untersagen des Hanfanbaus doch völlig idiotisch! Diese bescheuerten Politikerhirne wieder! Meine Jungs haben das Cannabis natürlich nur zu Testzwecken verkonsumiert, schließlich wollten wir den Schlange stehenden Käufern doch keinen minderwertigen Schund andrehen. Dass sie nach einer solchen Verköstigung so benebelt sein würden und den Hochsitz von Förster Fritsche abfackeln, konnte ja niemand ahnen und ich sage Ihnen hier im Vertrauen, ich habe auch meine Zweifel daran. Wahrscheinlich ist der Waldschrat beim Ansitzen wieder eingepennt und hat seine Fluppe fallen lassen, Pharisäer der! Meine beiden Goldjungs wurden jedenfalls direktemang in die Geschlossene verfrachtet und das halte ich nun wirklich für eine Unverhältnismäßigkeit der Mittel. Seit drei Monaten werden sie nun dort schon „behandelt“ und all meine Besuchsanfragen wurden mit Hinweis auf den komplizierten Therapieverlauf abschlägig beschieden. Jetzt habe ich die Faxen aber dicke. Wozu habe ich schließlich die Schrotflinte unter dem Alkoven im Knaus aufbewahrt? Ich gehe jetzt meine Jungs abholen. Und dann machen wir es uns richtig schön!

Von Fall zu Fall

Erinnerungsfetzen tauchen langsam wie Seifenblasen aus dem Unterbewusstsein auf und lassen sich zögernd in meinem Gehirn nieder. Ich will wissen, wie ich hierher gekommen bin, und versuche, die Seifenblasen zu fangen, springe ihnen in meinen Gedanken entgegen und wenn es mir gelingt, meinen Griff in einer zu verhaken, fühlt sie sich an, wie ein Marshmallow, denke ich bei mir. Langsam kann ich mich daran erinnern, wie ich mit meinem leichten Tagesrucksack in der Felswand hänge und mich behände, wie ich es schon tausendmal gemacht habe, mit sicheren, festen Griffen von einer Felsnase zur nächsten hangele. Ich klettere mit Wut im Bauch, weil mich David versetzt hat. Schon wieder. Natürlich hat David die seit 2 Monaten geplante Klettertour wieder erst am Tag zuvor abgesagt. Das Klettern ist eine gute Methode, Aggressionen und Frustrationen zu verarbeiten, weil es absolute Aufmerksamkeit erfordert. Trotzdem hat sich der Ärger über Davids Anruf in meinem Magen festgefressen und wartet nur darauf, dass er sich bei der nächsten Begegnung lautstark entladen kann. Keine Zeit jetzt dafür. Mit beiden Füßen und der linken Hand bin ich sicher in der Wand verankert. Der nächste Griff ist ziemlich weit weg, ich stehe mit dem linken Fuß auf einem kleinen Vorsprung und mache mich lang, um mit der rechten Hand an die kleine, pilzförmige Erhebung zu gelangen, aber es fehlen ungefähr 10 cm. Die Sonne steht noch nicht allzu hoch, ich bin gut in Form und ausgeruht. Ich strecke mich nochmals ein Stück dem Pilz entgegen und versuche, meinen Schwerpunkt weiter nach oben zu bringen, aber es reicht immer noch nicht. Schon mehrere Minuten hänge ich in der Wand und spüre plötzlich, wie sich ein schweißiger Tropfen den Weg in mein rechtes Auge bahnt. Nun beginnen meine Muskeln zu brennen und langsam mir wird klar, dass nur es nur eine Möglichkeit gibt, um mich aus dieser schwierigen Situation zu bringen, ein „dynamic move“, ein Sprung, bei dem für einen Moment alle Haltepunkte losgelassen werden müssen, um wie eine Katze zum nächsten Halt zu hechten. Es ist ja nicht weit, der Griff ist groß und in der Trainingshalle habe ich diesen Sprung schon einige Male gemacht. Der Umstand, dass ich dabei immer gesichert war, schießt mir nur einen Augenblick durch den Kopf. Ich kann es schaffen, das weiß ich, und es ist ja wirklich nur ein kleines Stück, ich bin durchtrainiert und habe bis hierher immer alles hingekriegt. Es wird klappen. Ich zwinge mich, nicht nach unten zu sehen aber mir ist klar, dass unter mir ungefähr 60 m liegen bis zu der mit Büscheln durchsetzten Wiese, von der ich gestartet bin. Ein riskantes Manöver, natürlich, aber ich habe bisher alles, wirklich alles erreicht was ich mir vornahm und die Option, einfach auf den letzten Sims zurück zu klettern und eine andere Route zu suchen, scheint mir wie das Eingeständnis einer Niederlage. Ich bin kein Verlierer und kein Feigling und ich schaffe diese lächerlichen, paar Zentimeter, da bin ich sicher. Wenn ich DAS am Montag im Büro erzähle, wird es alle unglaublich beeindrucken und meinen Ruf weiter untermauern, ein verdammt harter Hund zu sein und das BIN ich schließlich auch. Langsam werden meine Fingerspitzen taub und mein rechtes Knie beginnt zu zittern. Der Schweiß auf meiner Stirn ist inzwischen ein regelrechter Sturzbach geworden und nun spüre ich zum ersten Mal das Gefühl, das wohl als Angst bezeichnet wird. Ich kannte es bisher nicht, doch es sagt mir, dass ich ein Arschloch bin, wenn ich versuche, zum nächsten Griff zu springen. Sofort ist der Entschluss, hinab zu steigen, getan. Hektisch (Hektik ist gar nicht gut, denke ich noch) suche ich den letzten Tritt unterhalb meines linken Beins, doch ich finde ihn nicht und plötzlich rutschen meine Fingerspitzen ab und ich falle.

Jetzt liege ich hier und es ist ganz still um mich herum. Meine Augen sind geschlossen und ich versuche zu atmen, was mir zunächst nicht gelingt. Ich zwinge mich, gegen den Schmerz in meinem Brustkorb anzugehen und nach einigen, unglaublich schmerzhaften Anläufen gelingt es mir, flach weiter zu atmen. Unvermittelt wird mir übel und ich kotze über den Rand des Felsvorsprungs, auf dem ich gelandet bin. Die Wiese ist immer noch weit unter mir. Ich hatte wohl großes Glück, dass ich auf meinem Rucksack gelandet bin, der den Aufprall etwas abdämpfte, aber als ich meine Beine bewegen will, spüre ich einen Schmerz wie noch nie zuvor in meinem Leben. Als ich nach unten sehe, kann ich meine Knochen sehen, wie sie aus der zerrissenen Strechhose herausragen. Schnell überlege ich, was ich heute Morgen in den Rucksack gepackt habe und erkenne, dass ich zwar ein langes Seil mitgenommen habe, mich mit gebrochenen Beinen aber niemals werde hinunterlassen können. Mein Telefon! Wenn der Typ vom Handyladen keinen Mist erzählt hat, wird es funktionieren. Schließlich sei es das mit dem besten Netz und ich habe immer nur das Beste gehabt! Unter Aufbietung all meiner Kraft überwinde ich den stechenden Schmerz in den Rippen, reiße den Rucksack unter mir vor und öffne das Kalbsledertäschchen. Das Display ist zerbrochen, aber das muss ja noch nichts heißen und mit zittrigen Händen versuche ich, die Notrufnummer zu wählen. Ich höre nichts. Kein Signal, kein Klingeln, nichts. Das Telefon ist hinüber. Schreiend werfe ich das Handy über den Sims in den Abgrund und verfluche David, mich und meinen unseligen Größenwahn! Tränen rinnen aus meinen Augen und mir wird klar, dass mich niemand suchen wird. Während das Blut aus meiner gerissenen Milz sich weiter langsam aber stetig im Bauchraum sammelt, weine ich, traurig über verpasste Gelegenheiten, zerstörte Freundschaften und nicht gezeugte Kinder, über den Tisch gezogene Kunden und all die Lügen, die ich mir und all den anderen mein ganzes Leben lang aufgetischt habe. Ob David die Unregelmäßigkeiten in den Geschäftsbilanzen gleich nächste Woche entdecken wird? Ja, ein hübsches Sümmchen habe ich mir für die alten Tage zurecht gelegt. Ich bin immer noch der Beste …

Varianten von Tief

Gestern sind wir in Imperia ausgelaufen. Franco hat mich auf seine 15 m lange Yacht eingeladen. Ich kenne Franco erst seit gestern, in einer angesagten Diskothek sprach er mich an, als ich mir einen Mojito bestellte. „Hier verwenden sie keine Hemingway-Minze“, raunte er mir zu. „Die Italiener sind schrecklich ungebildet, was Cocktails angeht“, flüsterte er. Seine Einladung kam mir gerade recht. Mit Karl hatte ich mich gestritten, war Hals über Kopf mit meinem bereits gepackten Rucksack vom Campingplatz getürmt. Ich hätte wissen müssen, dass es nicht klappen kann.
Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als Franco die Angel zusammenschraubte und den Haken mit Würmern präparierte. Nun sitzt er backbord, ruhig, die Gauloises hängt in seinem Mundwinkel und er schaut auf die Silhuette der gerade noch erkennbaren Küste. Ich liege auf dem Vorderdeck und die Sonne brennt so heiß, dass sich in meinem Bauchnabel schon ein kleiner, schweißiger See gebildet hat. Das Meer ist ruhig, wie eine Bleiplatte liegt es neben mir und es ist absolut windstill. Vorhin hat Franco in der Kombüse etwas Brot geschnitten und nach süßen Trauben und dunklem Wein zog er einen kleinen Plastikbeutel mit einem weißen Pulver aus der hohlen Buddha-Statue auf dem Sideboard. Er hackte uns mit ernster Miene einige Linien auf dem blank polierten Glastisch und ich versuchte mühsam, mir die lodernde Gier nicht anmerken zu lassen. Jetzt bin ich vollkommen entspannt und sage Franco, dass ich schwimmen gehen will. Er nickt mir zu und lächelt. Das Schiff schaukelt nur leicht, als ich langsam die kleine, blaue Strickleiter hinabsteige. Das Wasser unter mir ist kalt und unendlich erfrischend. Es spült die trägen Gedanken aus meinem Kopf und ich bin plötzlich nicht sicher, ob ich mich in die Realität zurücktreiben lassen möchte. Ich gewöhne meinen erhitzten Körper langsam an das kalte Wasser und stehe lange auf der fünften Sprosse, während das Wasser an meine Brust schwappt. Als ich mich loslasse und die ersten Züge hinter mich bringe, muss ich trotzdem nach Luft schnappen. Mit kurzen, festen Zügen habe ich das Schiff schnell umrundet. Vermutlich habe ich die Fische verscheucht aber das ist mir jetzt egal. Jetzt entferne ich mich schnell vom Schiff und als ich mich umdrehe, ist Franco nur noch so groß wie mein Daumennagel. Toter Mann. Das haben wir im Friesenbad immer gemacht, bis unsere Zehen und Finger schrumpelig waren wie kleine Dörrpflaumen. Ich lasse mich treiben und denke darüber nach, dass es zwei Variationen von „Ich gehe ins Wasser“ gibt, eine mit dem Hintergrund einer angenehmen Erfrischung und eine mit dem Wunsch eines Suizids. Ich spüre eine leichte Berührung an meinem linken Fuß und möchte zurückschwimmen, als etwas meine Fessel (warum heißt das so, denke ich noch) umschlingt und nach unten reißt. Ich strample und schlage mit den Armen aber wie eine eiserne Hand hält mich etwas gefangen. Ich spüre Panik aufsteigen und kann noch einmal Luft holen, bevor ich abermals nach unten gerissen werde. Immer tiefer gleitet mein Körper durch die wechselwarmen Wasserschichten hinunter und schnell wird es dunkler. Schon nach einigen Sekunden sinkt meine Herzfrequenz und die Arterien in meinen Armen und Beinen verengen sich, um das verbleibende, noch mit Sauerstoff angereicherte Blut dem Gehirn, dem Herzen und den anderen, lebenswichtigen Organen zu überlassen. „Tauchreflex“ wird das genannt, habe ich gelesen.Ich spüre bereits den Druck in der Lunge, durch meinen unsteten Lebenswandel in der Vergangenheit ist mein Körper in einem nicht sehr durchtrainierten Zustand. Atme, atme, schreit etwas in mir und ich will zurück auf das Sonnendeck und Francos braungebrannten Rücken sehen und mir ein Bier aus dem Kühlschrank holen … Ganz langsam bemerke ich, wie mein Bewusstsein schwindet und da ist er tatsächlich, der viel genannte Film, der kurz vor Eintritt des Todes abläuft. Ich sehe mich mit meiner großen Schwester durch tiefe, taunasse Wiesen stapfen, ich sehe mich an der Seite meiner ersten Liebe in der Gondel der Zugspitzbahn. „Schau, wie tief das ist“ sagte er und schubste mich zum Spaß. Am Ende des Films sehe ich auch Karl, wie er mit ungläubigem Gesicht auf dem blutgetränkten, einstmals sonnengelben Schlafsack liegt und das tief in seinen rechten Lungenflügel eingetretene Brotzeitmesser umklammert. Ich konnte nicht anders, denke ich noch. Ich wusste nicht, wie tief das Meer wirklich ist. Dann umfängt mich Schwärze.